Also, um die Diskussion mal auf eine objektive Grundlage zu stellen, hier die unwiderruflichen Fakten (ich habe den Prozess schon seit einigen Monaten regelmäßig verfolgt):
- Die Kassiererin hat die ‘Tat’ nicht zugegeben, sondern bis zuletzt bestritten.
- Auch die anderen vor Gericht gemachten Aussagen waren nicht als Beweis tauglich. Dass Gericht hat in seiner Urteilsverkündung selbst bestätigt, dass der Urteilsspruch nicht auf einem Beweis, sondern lediglich auf einem “dringenden Verdachtsmoment” beruht.
- Die Geschäftsführung hat die betroffene Kassiererin exakt 3 Tage nach dem Bekanntwerden des Verschwindens des Kassenbons belastet. Dazu muss man wissen, dass es eine gesetzlich vorgeschriebene Frist gibt, Video-Aufzeichnungen aus dem Laden 3 Tage zu archivieren. Mit anderen Worten: Die Kündigung wurde exakt in dem Moment ausgesprochen, nachdem die Aufnahmen vernichtet wurden. Wenn die Geschäftsführung einen Videobeweis zur Hand gehabt hätte (der Bon lag vorher einige Wochen auf dem Schreibtisch im Büro rum, nachdem er zuvor im Laden gefunden wurde, auch das Büro wurde videoüberwacht!), warum vernichtet man diesen dann, um direkt danach eine Kündigung auszusprechen, welche durch dieses Beweismaterial gerechtfertigt würde?
- Die betroffene Kassiererin hat kurz vor ihrer Kündigung an gewerkschaftlichen Streikaktionen teilgenommen. Die “Streikbrecher” aus der Filiale wurden dafür laut Zeugenaussagen von der Filialleitung zum Bowlen eingeladen und wurden als Gegenleistung aufgefordert, Unregelmäßigkeiten im Verhalten der Streikenden regelmäßig an die Geschäftsleitung zu melden. Bereits seit Oktober 2007 stand die gekündigte Kassiererin aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Aktivitäten auf der schwarzen Liste des Unternehmens.
Allein diese Tatsachenbestände machen das Urteil aus meiner Sicht zu einer kompletten Farce. “Im Zweifel für den Angeklagten” scheint offenbar in Deutschland nicht zu gelten, wenn der Kläger entsprechenden politischen Einfluss besitzt. Niemand kann beweisen, dass die Kassiererin die Pfandbons nicht eingesteckt hat. Umgekehrt gibt es aber auch keinen Beweis dafür, dass sie es getan hat. Dieser Aspekt, verbunden mit der generellen Bedeutung für die Auslegung unklar formulierter Arbeitnehmerrechte in Deutschland, macht das Urteil zu einem Präzedenzfall. Es geht hier nicht allein um die Frage der Bestrafung eines Individuums, welches sich illegal verhalten hat. Das Urteil wird eine gewaltige Auswirkung auf das gesamte Arbeitsrecht in Deutschland haben!
Neben den Fakten sprechen meines Erachtens aber nichtsdestotrotz auch moralische Erwägungen dafür, im Sinne der Kassiererin zu urteilen, und zwar SELBST WENN es erwiesen wäre, dass sie die Pfandbons tatsächlich eingesteckt hätte. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass das deutsche Recht von seiner Ursprungsidee eigentlich darauf ausgelegt war, die entsprechend Schwächeren gegenüber den Stärkeren zu schützen. Umgekehrt kann schließlich auch niemand seinen Arbeitgeber verklagen, wenn dieser seinen Mitarbeitern spontan das Weihnachts- oder Urlaubsgeld streicht. Und da geht es nicht um 1,30, sondern um sehr viel mehr Geld. Und, Chrissy, es geht hier nicht um Mitleid mit einer Person… Und zum Thema Vertrauensverhältnis: wer bricht eher die Vertrauensgrundlage? Die Mitarbeiterin, die 1,30 Euro einsteckt (bzw. lediglich diesbezüglich verdächtigt wird), oder die Filialleitung, die ihre Arbeitskollegen auf sie ansetzt, weil sie von ihren gesetzlich festgeschriebenen Arbeitnehmerrechten (gewerkschaftliches Engagement) Gebrauch macht? 