Ich geh einfach mal so vor, wie schon im Thread zu “Im Himmel ist die Hölle los”, bewerte also die einzelnen Songs und versuche, am Ende ein Fazit zu ziehen.
1. Nie wieder Kunst -> “Hurra! Hurra! Die EAV ist wieder da!..” - Dieses Intro vor dem eigentlichen Titellied sprach damals nach knapp drei Jahren Pause wohl jedem EAV-Liebhaber aus der Seele. Ich steh drauf, wenn Tom und Klaus gleichzeitig jeweils extrem tief und extrem hoch singen, was sie auch im Verlauf des Songs zweimal erneut tun. Wohl eine der schrägsten EAV-Nummern überhaupt. Synthie-Pop, schiefes Klaviergeklimper, volkstümlich anmutende Elemente, spitzer’sche Schenkelklopferreime über Künstler & Kunst, eingängiger Refrain - und das alles in verpackt in einem einzigen Song! Ich liebe es!
2. Flugzeug (Liebste mein) -> Wieder Synthie-Pop, diesmal mit ein paar Techno-Anleihen. Ich mag den Töfferl-Countdown und den zweideutigen Text. Nicht sehr tiefgründig, aber lustig ! Wie schon beim ersten Lied, bleibt auch hier der Refrain sofort im Ohr hängen. Ich kann mir gut vorstellen, dass bereits bei der Entstehung des Songs mit einer Single-Auskopplung geliebäugelt wurde.
3. Cinderella -> Wahrscheinlich kann man dieses Lied nur lieben oder total bescheuert finden. Ich mag es unglaublich gerne! Besser kann man die Thematik “geplatzter Traum einer gescheiterten Liebesbeziehung” einfach nicht umschreiben ! Wieder ein absolut eingängiger Refrain. Die Musik klingt zumindest im Refrain wieder etwas mehr nach “echter Band”, als bei den beiden vorherigen Songs. Die Live-Darbietung mit Anders Stenmo als Cinderella und Eik Breit als Prinz von Ölen auf dem Konzertvideo ist einfach genial!
4. The Frogs Are Coming -> Typischer EAV-Nonsens, der zum nächsten Song führt: “Frösche auf der Autobahn kommen selten drüben an!” Herrlich !
5. 300 PS (Auto…) -> Neben “Go, Karli go” vielleicht sogar DAS EAV-Lied meiner Kindheit!! Ein fetziger Mix aus programmiertem Pop und Gitarren-Rock mit lustigem Text; für Autobahnfahrten allerbestens geeignet ! Live ein absolutes Brett! Müsste dringend mal wieder auf die Bühne! Und: Die Maxi-CD enthält mit “300 - 700 PS” die letzte Maxi-Version, die (damals EAV-typisch) mit einer vollwertigen Zusatzstrophe aufwarten konnte.
6. Barbara -> Auch hier wieder eine Nummer, auf die man wohl nur total abfahren oder sie absolut bekloppt finden kann. Ich fahr drauf ab! Dieser etwas pubertäre Humor, in spitzer’scher Reimform - super !! Zur Musik: Toller Kontrast zwischen den minimalistisch klingenden Strophen und dem relativ erdigen Refrain, dessen Background-Chor ich übrigens liebe (“Aaaaahhh”-Chor meets “Ah-ah-ba-ba”-Tom )! Und das Ende kann auch hier wieder eine Quasi-Brücke zum nächsten Song schlagen…
7. Die Zeit -> Lustiger Text über ein Thema, das wohl jeden irgendwann schon beschäftigt hat: die liebe Zeit. Musikalisch original umgesetzt. Ich liebe den Part vor dem Refrain (“Wann geht uns’re Zeit vorüber?..”). Ein toller Einfall ist auch, nahezu durchgehend ein Uhrenticken als eine Art Hihat einzusetzen. Mir geht in der Studio-Version irgendwie das Gitarrensolo der Live-Fassung ab. Eigentlich ist die Neuproduktion aus dem Jahre 2005 (ebenfalls produziert von David Bronner) für mich die musikalisch bessere (und bescherte uns den Hans-Peter ). Allerdings rückte durch die erdiger klingende Produktion dieses Comichafte bzw. Slapstikartige des Songs etwas in den Hintergrund. So gesehen haben beide Varianten etwas, das jeweils für sie spricht.
8. Edi -> EAV-Nonsens vom Allerfeinsten! Ursprünglich wurde der Text wohl für die Gruppe “Blue Thier & Coco Band” geschrieben. Leider hab ich diese Version bisher nie gehört und kann daher nicht vergleichen. Mein persönliches Highlight: “A-wuff-a-wie-a-wassalassa”! Das steht auf einer Stufe mit “Sittenstrolch und Tittelmolch” aus Möpse ! Auch musikalisch toll gemacht, mit der Orgel und diesen “flockigen” Percussions und Drums.
9. Geburtstag -> Jährlich denke ich an meinem Ehrentag an dieses wunderbare, kleine Liedchen. Herrlich boshaft!
10. Einmal möchte ich ein Böser sein -> Mittlerweile ein EAV-Klassiker, welcher mehrfach in unterschiedlichen Studio- und Live-Versionen veröffentlicht wurde und mit Recht immer wieder seinen Weg in Konzertprogramme der EAV fand. Ich liebe diesen Text über einen Typen, der sich wünscht, endlich auch mal als “Böser” die Sau herauszulassen. Musikalisch find ich zwar diese synthie-lastige Album-Version nicht übel und ich mag auch das Keyboard-Solo gegen Ende, dennoch gab es für mich im Laufe der Jahre bessere Umsetzungen des Songs. Ich stehe dem durchaus notwendigen “100 Jahre EAV”-Album musikalisch mittlerweile zwar etwas kritisch gegenüber, die Neuaufnahme von “Einmal möchte ich ein Böser sein” hat sich hier jedoch definitiv gelohnt! Aber auch die gitarrenlastigeren (Video-)Versionen von der Zweitauflage der Maxi-CD sowie die beinharte Neuaufnahme auf “Let’s Hop To The Pop” (mit Tom als Sänger im Refrain) höre ich prinzipiell lieber, als diese ursprüngliche Album-Version. Die ist mir für die Thematik einfach ein wenig zu seicht. Vor allem, weil im Nachhinein wie gesagt bessere Studioversionen des Songs entstanden sind, auf die man “ausweichen” kann . Trotzdem: geile Nummer und live sowieso über jeden Zweifel erhaben!
11. Hallo -> Vor allem im Refrain eigentlich ein typischer “EAV-Hit”. Hat ein bisschen was von “Küss die Hand, schöne Frau”. Witzige Selbstironie nach der dreijährigen Konzert- und Albumpause: “Ich WAR einmal der Sänger von der EAV!” Würde gerne mal die Bühnenumsetzung sehen, aber leider wurde die Live-Show auf dem Video ja unsinnigerweise - wie damals üblich - von zweieinhalb Stunden auf sage und schreibe 79 Minuten heruntergestümmelt.
12. Zwirch und Zwabel -> Ich liebe dieses Lied! Eine Hochleistung spitzer’scher Reimkunst, musikalisch etwas an die damalige Form des deutschen Hip Hops angelehnt. Später hat man endlich das Potential der Nummer erkannt und sie auf die Bühne gebracht. Kann von mir aus auch gern mal wieder in eine EAV-Show, bevor die “Zwudeline” noch komplett einstaubt !
13. Die Geschichte -> Traurige Geigen, melancholisches Pfeifen, Flöten, eine schmetternde Trompete und ein anrührend wirkender Text. Alles nur, um dem Hörer keine Geschichte vorzutragen. Ich find’s immer noch genial! Leider würde dieses Lied live wohl nicht funktionieren, auch wenn’s musikalisch - besonders im Mittelteil - sicherlich 'ne Wucht wäre!
14. Ibrahim -> Toller Kurz-Song über die Feindschaft zwischen Türken und Griechen, demonstriert in einem kulinarischen Kampf. Auch dieser Insider-Nummer hat man zum Glück Jahre später noch mal eine Chance gegeben, indem man sie erstmals visuell auf der Bühne umgesetzt hat.
15. Eierkopf-Rudi -> Quasi das “Schrei nach Liebe” der EAV. Geiler Song gegen Rechtsradikalismus, der eine unverkennbare Sprache spricht. Hier konnte Tom bei der zu dieser Zeit doch recht poppigen EAV wohl endlich mal wieder die Rock-Keule auspacken! Einziger Wermutstropfen: Mir klingen die Drums speziell während der Strophen ein bisschen zu “starr programmiert” und das Ende hätte ruhig etwas intenstiver gestaltet werden können, à la Live-Version. Trotzdem alles in allem super! Das Ding müsste auch mal wieder auf die Bühne! Auf der “100 Jahre EAV”-Tour hat man ja bereits gezeigt, dass man den Song mit der heutigen Band sogar noch aufwerten kann (damals leider in gekürzter Form). Also Jungs, packt dieses Brett wieder aus!
16. Leckt’s mi… -> Nach dem lauten “Eierkopf-Rudi” wird’s jetzt deutlich leiser. Eine der besten typischen Schlussnummern der EAV. Vielleicht sogar die Beste. Und eine meiner persönlichen EAV-Perlen. Absolut erdig produziert. Und das Beste: Tom singt hier die Erststimme! So herrlich gequält kann auch nur er dieses Lied rüberbringen ! Jammerschade, dass es das noch nie live zu hören gab. Ich kann nur hoffen, dass das in den nächsten Jahren doch noch für eine Tournee ausgegraben wird. Und dann bitte diese Version und nicht die Reggae-Variante. Die ist zwar auch in Ordnung, aber kann diesem fast schon rührseligen “Wienerlied”-Charakter nicht das Wasser reichen. Perfekt!
Fazit: “Nie wieder Kunst (wie immer…)” zählt zu meinen Lieblingsalben der Verunsicherung. Mir ist bewusst, dass es einige Leute gibt, die dieser Scheibe nicht allzu viel abgewinnen können oder sie nur mittelprächtig finden. Mir geht’s da komischerweise völlig anders. Das Album mag textlich vielleicht nicht das tiefgründigste der Band sein und natürlich wurde hier massiv mit Computern und mit Synthesizern geabeitet. Aber: Das wurde bereits bei “Watumba” in ähnlichem Maß getan! Und zwar bei fast allen Songs (vermutlich bei allen, die nicht bereits für “Neppomuk’s Rache” fertiggestellt wurden). Nur steckt in den ganzen Synthie-Produktionen auf “Nie wieder Kunst” nach meinem Empfinden viel mehr “Wumms”! Das Tastenspektakel wurde auf dem Kunst-Album einfach absolut passend in Szene gesetzt, find ich! Die alte Garde dürfte auf “Watumba” (bis auf die Live-Aufnahmen) bereits ebenfalls nur noch sehr am Rande beteiligt gewesen sein. Aber auch die ganzen Vorgängerscheiben, allerspätestens ab Geld oder Leben, sind wohl vorwiegend mit Tom, Nino, Klaus und dem Produzenten Peter Müller aufgenommen worden, auch wenn das vermutlich die wenigsten Fans wahrhaben wollen . Auf “Nie wieder Kunst” war die klassische EAV-Besetzung dann jedoch überhaupt nicht mehr beteiligt, da die Scheibe großteils in Kenia entstanden ist. Die nötigen Instrumente neben den Programmings hat man vorwiegend von Gastmusikern einspielen lassen. Dadurch wurden Eik Breit, Nino Holm, Anders Stenmo und Günther Schönberger auch erstmals im Booklet nicht mehr erwähnt. Das hat so manchem EAV-Liebhaber vielleicht ein wenig an Illusion geraubt, aber man muss auch hier ganz klar sagen: Auf den Vorgängeralben wurde ebenfalls bereits ziemlich massiv mit Studiogästen gearbeitet; das ging schon bei “Spitalo Fatalo” los. Wer also wirklich die komplette damalige Band im Studio spielen hören will, dem bleiben wohl wirklich nur “1. Allgemeine Verunsicherung” und “Café Passé” übrig.
Natürlich hat “Nie wieder Kunst” einen speziellen Sound. Die EAV blieb sich alles in allem aber auch mit diesem “Comeback”-Werk treu. Und das dürfte auch ein Grund sein, warum der Erfolg nach ihrer knapp dreijährigen Pause nachgelassen hat. Trotz einer groß angelegten PR-Kampagne, trotz des teilweise etwas moderneren Sounds und trotz der ganzen Ohrwürmer, die wenige Jahre zuvor noch locker die Top 5 der Single-Charts erklommen hätten, konnte an die Mega-Erfolge nicht mehr angeknüpft werden. Die Zeiten hatten sich einfach geändert. Die aufwendige Kunst-Tour muss finanziell wohl desaströs gewesen sein. Meines Wissens mussten einige Konzerte wegen zu schlechem Vorverkauf der Tickets in kleinere Hallen verlegt werden, manche Gigs fielen wohl sogar komplett ins Wasser. Trotz dieses Beigeschmacks: Meiner Meinung nach zählt dieses Album zu den Besten der Band. Für mich stellt es sogar einen wahren Höhepunkt unter den 90er-Alben der EAV dar! Im Gegensatz zum Vorgänger “Watumba” und zum Nachfolger “Im Himmel ist die Hölle los” gibt es hier auch keinen Song, dessen Produktion ich mittelmäßig oder gar mangelhaft finde. Vielleicht mit Ausnahme von “Einmal möchte ich ein Böser sein”. Aber auch das könnte vorwiegend am Vergleich zu den anderen Versionen liegen, denn eigentlich find ich auch die Album-Fassung für sich alleine genommen gelungen. Wenn ich eine Schulnote für das Album vergeben müsste, kann ich “Nie wieder Kunst” also unter’m Strich eine glatte 1 geben!
Zum Artwork: Das Cover ist natürlich genial! Ein auf moderne Kunst / Pop Art gemachter Neppomuk, der eine Warhol-Banane aus der Schale “schießt”. In einer Sprachblase (Rock-Comix!) teilt er dem potentiellen Album-Käufer mit, auf was er sich einzustellen hat: “Nie wieder Kunst”, was aber eigentlich auch schon vor der Schaffenspause so war, also “wie immer”. Auf dem Rück-Cover dann eine völlig andere Art von Kunst: Ein dicker Neppomuk versucht sich in Seilakrobatik ! Das Booklet ist in Ordnung, kann aber meiner Meinung nach gerade mit den “handgemachten” Comic-Booklets - speziell mit denen zu “Neppomuk’s Rache” und “Liebe, Tod & Teufel” - nicht mehr ganz mithalten. Das könnte vorwiegend damit zu tun haben, dass dieses Booklet ausschließlich fürs CD-Hüllen-Format entworfen wurde (die limitierte Vinyl-Ausgabe von “Nie wieder Kunst” besitzt kein Booklet mehr). Trotzdem ist es ganz hübsch anzusehen. Es gibt zu den meisten Liedern und auch zu den Credits jeweils eine passende kleine Nasenbär-Zeichnung (zum Bösen sogar zwei) und es sind alle Liedtexte enthalten; ich glaub sogar einigermaßen fehlerfrei . Auffällig ist, dass man beim Aufschlagen des Heftchens auf der ersten Seite erstmal die Highlights des damaligen Merchandising-Angebots präsentiert bekommt (u. a. sind drei Neppomuks zu sehen, die jeweils einen Fanartikel “präsentieren”). Am Ende des Booklets hat man dann in einem Bestellformular nochmals alle damals verfügbaren Fanartikel aufgelistet, der damalige EAV-Fanclub “Neppomuk” bekam eine volle Seite Werbefläche und es wurde noch mal der gesamte Backkatalog der EAV abgedruckt, sowie natürlich das obligatorische Gewinnspiel von der Plattenfirma. Zitat Stefan Raab: “Eigentlich müsste die CD doch Otto-Katalog heißen!”
PS@Flachzange: Das Vinyl von diesem Album klingt wirklich hervorragend! Ich hab’s aus technischen Gründen (momentan schlechte Anlage) jetzt länger nicht gehört, aber es hat einerseits diesen typischen warmen, druckvolleren Klang eine Schallplatte, klingt jedoch gleichzeitig fast genauso klar und detailreich, wie die digitale CD. Kann dir nur empfehlen, dir mal 'nen Plattenspieler zu kaufen und dir diese und andere EAV-Platten mal anzuhören. Teilweise sind das richtige kleine “Offenbarungen” !