Uiuiui, zu den Fragen und bisherigen Kommentaren fällt mir ne ganze Menge ein - ich versuche mal, mich stichpunktartig kurz zu fassen:
1. Zu seinem angeblich überraschenden ‘Wandel’ nach der Wahl: Trump mag ein Vollidiot sein, aber er ist ja nicht dumm - er weiß genau, wann was angemessen ist! Und jetzt, wo er faktisch Präsident ist, nützt ihm die nach außen zahme Tour doch viel mehr! Das hat ja nichts mit einer Läuterung zu tun, aber warum sollte er sich jetzt schon in jeder Rede noch mehr direkte Feinde machen? Seine politischen Vorstellungen wird er trotzdem so weit durchsetzen, so weit es das System von checks and balances zulässt! Und rhetorisch hängt er sein Fähnchen nach jedem Wind, der ihn gerade vorwärts treiben kann - und das ist noch viel gefährlicher als jemand, der einfach zu jeder Gelegenheit sagt, was er denkt! Aber hätte er bei seiner Siegesrede sagen sollen: “Hillary, du alte Schlampe, jetzt musst du endlich einsehen, dass ich geiler bin”? Dann hätte er sich gleich politisch so viele Feinde gemacht, dass er definitiv in jeglichen Fragen komplett isoliert wäre!
2. Insgesamt läuft mir die Debatte gerade in eine sehr falsche Richtung! Alle tun plötzlich unheimlich schockiert - dabei hätte man vieles davon (nicht nur in den USA) vorhersehen können, wenn man sich in den vergangenen 20 Jahren etwas mehr für die kritischen soziologischen und gesellschaftlichen Stimmen interessiert hätte! Aber auch dieses Mal scheint niemand daraus zu lernen - viele der ersten politischen Reaktionen aus Deutschland, die ich vorgestern vernommen habe, drehten sich offen oder verklausuliert um die Angst, dass jetzt ihr schönes TTIP scheitert! Dass TTIP und Co nicht die Lösung, sondern stellvertretend für große Teile der Ursachen der aktuellen Probleme und Protestbewegungen stehen, wird dabei entweder nicht verstanden oder - wahrscheinlicher - aufgrund politischer Interessen verschwiegen! Und die Debatte wird aus diesem Grund ganz schnell in eine Richtung gelenkt, welche den Wahlausgang in den USA vollkommen von den Entwicklungen bei uns isoliert und so tut, als sei das ein Problem wahlweise des beknackten Wahlsystems, der Amis, die zu dumm zum wählen sind oder einer missglückten Wahlkampfstrategie der Demokraten. Klar lässt sich zu Recht über das amerikanische Wahlsystem diskutieren, genauso wie über viele Entwicklungen formaldemokratischer Institutionen in Europa, aber das ist doch nicht das eigentliche Problem! Auch wenn Clinton vielleicht faktisch ein paar Stimmen mehr hatte als Trump: hätte man sie aufgrund eines anderen Wahlsystems bei faktisch gleicher Stimmenverteilung zur Siegerin erklärt, wäre dann das ganze Problem wie weggeblasen? Natürlich nicht (aber man hätte einfacher so tun können, als ob!)
3. Das eigentliche Problem ist doch ein ganz anderes: es gibt (zu Recht) eine wachsende Skepsis gegenüber und Kritik an politischen und ökonomischen Eliten, die in den vergangenen rund 20 Jahren recht erfolgreich eine breite neoliberale Koalition gebildet haben, deren Ergebnisse sich stichpunktartig unter anderem in folgenden Entwicklungen niedergeschlagen haben: wachsende soziale Ungleichheit, Einschränkung von Arbeitnehmer- und sozialen Rechten, Aushöhlung formaldemokratischer Institutionen, ein wachsender Anteil von “Abgehängten” der Gesellschaft einerseits und zunehmender Prekarisierung und Zukunftsunsicherheit der traditionellen Mittelschichten etc. All das hat sich zu einer schwelenden Skepsis und Missgunst gegenüber den Eliten entwickelt - und die Rechten nutzen das gnadenlos aus. Linke Parteien und Bewegungen haben es umgekehrt nicht mal im Ansatz geschafft, gesellschaftlichen Unmut über die Verhältnisse zu einer kritischen Bewegung zu bündeln, die das Potenzial auf positive Veränderungsprozesse besitzt - möglicherweise auch deshalb, weil die meisten von ihnen (wenn vielleicht auch mit einigen Abstrichen) selbst Teil dieser Elite sind, gegen die man sich stellen müsste!
4. Alles in allem: wenn man es schon nicht vorhergesehen hat, kann und sollte man schockiert sein über den Wahlausgang in den USA - es kommt aber darauf an, die Energie dieses Schockmoments für eine Hinterfragung der eigenen Verhältnisse fruchtbar zu machen! Ich fürchte aber, das wird nicht geschehen - im Gegenteil lässt es sich (wie oben schon beschrieben) wunderbar als Ablenkungsmanöver nutzen: die Amis ham ja schon immer einen an der Waffel gehabt und so weiter… wir in Europa müssen jetzt zusammenhalten und geschlossen unsere Werte von Demokratie und Wirtschaftswachstum verteidigen… Das ist quatsch! Vergesst mal kurz die Amerikaner: nächstes Jahr haben wir Bundestagswahl, und wenn mich nicht alles täuscht, wird dann eine zu großen Teilen rechtsextreme Partei mit einem Stimmenanteil von 10 bis 20 Prozent in den Bundestag einziehen! Und die Ursachen dafür sind die selben wie bei Trump - und wenn wir das nicht erkennen und uns statt dessen auf den Diskurs des “das ist ein Amiproblem - wir müssen jetzt erst recht unsere Politik verteidigen und stärken” einlassen, wird es (nicht nur in Deutschland) ganz bald ein ganz böses Erwachen geben!
P.S. und 5.: über eine Wahlsiegerin Clinton hätte ich mich übrigens genau so wenig gefreut… Sie ist ein perfektionierter Teil genau jenes Problems, das Trump die Wähler zugetrieben hat! Vertreterin der Interessen von Rüstungs- und Konzernlobbies, scheut sie vor keinem Krieg und Bombardement zurück, das die Interessen des transnationalen Kapitals sichert! Wie Trump in dieser Richtung tickt, lässt sich kaum wirklich einschätzen… Aber man beachte den Unterschied an potenzieller Empörung: so lange wir Leute an der Macht haben, die es halbwegs erfolgreich schaffen oder zumindest versuchen, die Negativfolgen unseres Wohlstands und unserer Konsumgier an die globale Peripherie zu lenken, atmen wir auf und applaudieren! Sobald jemand im eigenen Lande polarisiert, sind wir entsetzt! Dabei kann diese Politik der Folgenabwälzung auf Dauer nicht gutgehen - und das bekommen wir in den letzten Jahren bereits verstärkt zu spüren! Verpestete Luft, Klimazerstörung, Ausbeutung, Folter, Krieg, Kinderarbeit etc. irgendwo in Asien? Scheißegal, deren Problem, die sind halt noch nicht so demokratisch wie wir! Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge, soziale Polarisierung etc. plötzlich bei uns? Wir brauchen einen starken Mann, der alles wieder ins rechte (!) Lot rückt!